Gibt es ein Recht darauf, sich nicht erinnern zu müssen?
Eine Studie des MEMO Deutschland (Multidimensionaler Erinnerungsmonitor) zeigt aktuell, dass erstmals mehr Befragte es bevorzugen würden, dass unter die Zeit des Nationalsozialismus ein Schlussstrich gezogen werde.

Was sagt das aus über uns? Über uns als Gesellschaft? Über die Generationen, die immer mehr zeitlich entfernt von den Ereignissen aufwachsen, obwohl 80 Jahre erst ein Menschenleben sind?
Knapp 40 zu 40 % stehen sich gegenüber. Die Mitte verhältnismäßig klein. Spiegelt das auch ein wenig die viel diskutierte Spaltung in unserem Land wieder?
Schon bevor ich die Studie sah, machte ich mir Gedanken: Warum beschäftige ich mich soviel mit dieser Zeit, mit dem Krieg, seinen Auswirkungen auf, ja, alle. Juden, politisch, ethnisch, religiös Verfolgte, Flüchtlinge, Heimatlose, Zwangsarbeiter, Vertriebene. Meine Familie, die da ganz zentral mit drin hängt. Seit ich denken kann, ist mir bewusst, dass meine Großeltern Schreckliches erlebt haben. Sie haben uns Kindern davon erzählt. Mehr als ihren Kindern. Die Schwarzweißfotos aus ihrem Dorf in Pommern, das Landleben, das mein sechsjähriges Ich spannend, abenteuerlich, so ganz anders fand. Dann in fast jeder Erzählung verbunden damit: der Krieg. Wie mein Opa mit 20 eingezogen wurde, meine Oma ihren Mann verlor, den sie im Fronturlaub geheiratet hatte. Mit Anfang 20. Das waren zentrale Aspekte, wenn die beiden „von früher“ erzählten. Schönes neben Traurigem. Aber das gehört dazu. Ich habe nie gedacht, dass man das eine, das Negative, ausklammern sollte. Hat es mir geschadet? Ich glaube nicht. Damals begann mein Interesse für Geschichte. Ich las alle Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus, die ich in der Jugendabteilung unserer kleinen Stadtbibliothek fand. Schon in der Grundschule fing ich damit an.
Und jetzt? Tue ich das immer noch. Nur oft auf der anderen Seite: Wenn man Geschichte vermittelt, kommt man, gerade auch bei der Regionalgeschichte, um diese Themen nicht herum. Offiziell angefangen habe ich mit der Geschichte über ein Durchgangslager in unserem heimischen Wald nach 1945; darin befand sich auch eine Episode zu dem Umgang mit jüdischen Auswanderern. Da ist sie wieder: Die Zeit des Nationalsozialismus.
Gerade jetzt, wenn es Jubiläen, Gedenktage gibt. Soviel ist noch unerforscht, soviel kann man – was uns mit unserer Arbeit am meisten interessiert – aufarbeiten, öffentlich machen, diskutieren, zeigen. Und das sollte man dringend, wenn man sich die Studie und unsere Stimmung in der Gesellschaft anschaut.
Manchmal denke ich: Warum muss ich das tun? Ich brauche doch nicht davon überzeugt werden oder mich selbst zu überzeugen, dass Krieg schrecklich ist, dass er mehr Leid verursacht als Nutzen (jedenfalls für die Meisten) bringt. Ich möchte doch viel lieber Ovid übersetzen, mich mit Literatur beschäftigen, mit hellen, freundlichen Themen.
Zuviel Beschäftigung mit solchen Themen zieht einen herunter. Es gab und gibt Tage, etwa um Weihnachten des vorletzten Jahres herum, da habe ich alles weggeschoben: die Bücher, die im Wohnzimmer lagen: über Völkerschauen, ethnisch Verfolgte in einem Lager bei uns in der Nähe. All das gleichzeitig. Ich konnte nicht mehr. Dann aber kommt ein neuer Impuls, eine Idee. Oft angestoßen durch Menschen, die ich treffe. Fragen, Ideen, die bei einer Führung geäußert werden. Und dann wieder eine neue Idee: Dies oder jenes Thema kennt kaum jemand, hier kann man verknüpfen. Das steht für jenes Phänomen. So kann die Gegenwart, die Gesellschaft erklärt, eingeordnet werden. Dadurch lassen sich Menschen politisch bilden.
So arbeiten wir und das macht Spaß! Wir haben immer mehr vor, als wir umsetzen, leisten können – es hört also nie auf.
Und dann wieder Zweifel: Erreichen wir überhaupt etwas? Erreichen wir genug?
Ähnlich wie in der Studie kann man unsere Gesellschaft in zwei Lager teilen: die einen, die erinnern und sich erinnern wollen, und die anderen, die das Negative, wie sie es vielleicht auch mit allem Negativen in ihrem Leben tun, verdrängen wollen. Ist das legitim? Dürfen oder müssen wir sogar Menschen zwingen, sich mit Negativem, das ihnen nicht gut tut, zu beschäftigen?
Die Frage ist eher: Was ist der Preis, wenn wir damit aufhören?
Die Generation der Zeitzeugen verschwindet. Bald gibt es nichts mehr von der Zeit des Nationalsozialismus aus erster Hand. Es gibt zwar Dokumentationen, vielleicht so viele wie zu keinem Thema sonst, aber das ist viel anonymer als die Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen aus der eigenen Familie. Jemand, der von sich erzählt, den wir kennen. Dieser Weg, der vielleicht ergiebiger, einfacher und nachhaltiger ist, ist bald versperrt, geschlossen, für immer. Was bleibt uns, um genauso nachhaltig und tiefgründig daran zu erinnern?
Vielleicht Regelmäßigkeit. Regionalität. Ganzheitliche Bildung.
Das wäre ein Ansatz. Vielleicht ist er nicht der Beste. Aber wir sollten es wenigstens versuchen und nicht nur ständig daran appellieren, dass etwas getan werden muss – ohne Taten folgen zu lassen. Ich weiß, das ist einfacher, aber statt mit großen pathetischen Worten, die in der Tagesschau fast das ganze Land erreichen, sollte man aufs Kleine schauen. Flächendeckend. Nicht nur da, wo es brennt. Angebote für alle schaffen.
Wenn ich das möchte, ist meine Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Deutschland nach dem Schulabschluss vorbei. Also oft schon mit 16! Danach bin ich auf meinen eigenen Kopf, auf das angewiesen, was ich gelernt habe oder auch nicht. Bin ein oft allzu leichtes Opfer für Verschwörungstheorien und mache mich angreifbar für „alternative Meinungen“. Dann ist es oft schwer, aus diesem Gedankenkonstrukt wieder herauszukommen. Wenn ich das denn überhaupt möchte. Vielleicht ist es ja auch schön bequem.
Wir sind jedenfalls froh über jeden, der kommt, zuhört, Fragen stellt!, mitgestaltet, Impulse gibt und dranbleibt.
Also kommen wir wieder zurück auf die Frage vom Anfang: Gibt es ein Recht darauf, sich nicht erinnern zu müssen?
Der Versuch einer Antwort ist wie so oft schwierig. Man könnte nun das Recht auf freie Meinung anführen, auf die Vorstellung hinweisen, dass ein Staat seinen Bürgern Themen aufzwingt. Das kennt man aus autoritären Regimen. Nordkorea etwa, wo man gezwungen wird, sich mit der Familie Kim zu beschäftigen. Aber ist das das Gleiche? Zu welchem Zweck, mit welcher Absicht geschieht das Eine, geschieht das Andere?
Dient die durch Fachanforderungen, Förderprogramme oder Gedenktage staatlich verordnete oder geförderte Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus dazu, das gegenwärtige System zu verherrlichen? Oder dient sie dazu, über das vergangene System aufzuklären?
Wer sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, erkennt sehr schnell, was für ein verabscheuungswürdiges System er war (und ist). Das erkennt man, wenn man die Fakten kennt, wenn man weiß, wie die Progpaganda funktionierte, welches Menschenbild vertreten wurde, welcher ideologische Hintergrund gelegt worden war, welche Taten in seinem Namen und von seinen Vertretern begangen worden sind.
Erst wer die Fakten kennt, kann sich eine versierte Meinung bilden.
Der Nationalsozialismus ist und bleibt ein prägendes Kapitel deutscher Geschichte mit gewaltigen Auswirkungen auf die ganze Welt, auf Gesellschaften, auf Generationen – immer noch und das bleibt so. Und in Sätzen wie „Aber es war ja nicht alles schlecht!“ lebt er fort.
Das lässt sich nicht wegdiskutieren oder wegschieben. Auch wenn jeder von uns das manchmal gerne möchte. Und man sollte es auch nicht als Strafe für die folgenden Generationen betrachten. Denn das schwingt ja immer mit, wenn Menschen wie in der Studie einen „Schlussstrich“ fordern. „Wir haben doch genug gesühnt!“ „Was haben wir heute mit den Taten der Menschen von vor 100 Jahren zu tun?“
Meine Antwort: Einiges. Angefangen mit der nicht oder wenig stattgefundenen Entnazifizierung über Unternehmen und Politikerdynastien, die seit damals ununterbrochen weitermachen, bis zu Strukturen in Denkweisen, die in vielen Regionen – in Ost und West! – bis heute weiterleben. Das lässt sich nicht wegschieben und das prägt unsere Gesellschaft und unsere Politik bis heute. Und vielleicht ist das auch ein Aspekt, der die Spaltung nicht nur in der Studie, sondern auch in der gesamten Gesellschaft weiter vorantreibt.
Aus schrecklichen, traurigen und deprimierenden Themen etwas Neues, Positives, Sinnvolles, Wertvolles, ein besseres Miteinander zu erschaffen – dafür brauchen wir die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Und das ist es auch, was die wenigen Zeitzeugen meinen, wenn sie uns aufrufen, nicht zu vergessen!
– Lea Märtens
Quelle: https://www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/MEMO_Studie/evz_gedenkanstoss_memo_2025.pdf