Das waren keine Helden! oder Wie meine Familie den Volkstrauertag sieht


Gedanken zur Erinnerungskultur

 

Am Volkstrauertag 2024 haben wir in meiner Familie erstmals – soweit ich mich erinnern kann – darüber nachgedacht, was dieser Tag für uns bedeutet.
Meine Mutter zitierte meinen Großvater, der zu seinen Kindern gesagt hatte: „Das waren keine Helden.“ Den Gedenktag hat meine Familie nie begangen, sie haben nicht an Gedenkmärschen oder -feiern teilgenommen und auch ich habe in meiner Kindheit keinen Bezug dazu vermittelt bekommen. Für mich war das ein Tag, den ich in den Nachrichten kennengelernt habe, irgendwann zwischen acht oder zehn Jahren und den ich damals auch nicht hinterfragt habe. Nun, dreißig Jahre später, Krieg wird immer präsenter und die Teilnahmen am Volkstrauertag weniger – ich beschäftige mich inzwischen beruflich viel mit Erinnerungskultur und Demokratiebildung – versuche ich zu erfassen, was der Volkstrauertag eigentlich ist, bewirkt, soll…


Zurück zu Bruno, meinem Großvater.
Bruno ist in Pommern geboren, 1923. Mitten in einer Zeit, die geprägt war von den ersten Versuchen einer deutschen Demokratie, dem Zurücklassen der vermeintlich sicheren Zeit, als es noch den Kaiser gab und einer drohenden weltweiten Wirtschaftskrise.
Als er zwei Jahre alt war, ließen ihn Vater und Mutter mit zwei älteren Geschwistern allein zu Hause, damit sie zusätzlich zur Arbeit auf dem Gut sich bei umliegenden Bauern etwas für den Lebensunterhalt der Familie dazu verdienen konnten.
Es war eine Zeit von Inflation, drohender Armut und mittendrin begann Deutschland den Militarismus wiederzuentdecken. Wieder? Oder war er nie fort? Es bildeten sich Kriegervereine, auch in dem kleinen pommerschen Dorf und dort trafen sich die Veteranen des Ersten Weltkrieges, Lehrer, Gutsbesitzer, Bauern und posierten mit Pickelhaube und Gewehr.


In dieser Welt wuchsen Bruno und seine Geschwister auf. In der Schule schwappte der Militarismus dann auch auf sie über: strammstehen, Daten von Siegen und Kaisern wissen und das seit dem Mittelalter, ein glorreiches Deutschland! Die Kinder spielten Krieg in der Pause und am Nachmittag. Dann kamen die Nazis. Plötzlich sollten alle Jungen in ihrer Freizeit bei der Hitlerjugend mitmachen. Ein Verein, der meinem Urgroßvater so gar nicht zusagte, so wie alles, was politisch braun war. Er weigerte sich, seine Jungs hinzuschicken und wies beharrlich nachfragende Möchtegern-Sturmbannführer barsch ab. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des „Heldengedenktages“, der Vorgänger unseres Volkstrauertages und der Nachfolger des 1925 eingerichteten Volkstrauertages Nummer eins. Viele Gedenksteine mit den Zahlen des Ersten Weltkrieges und die Namenslisten der Gefallenen wurden in Dritten Reich aufgestellt. Alle Zeichen standen auf Konflikt und dazu gehörte auch, die Bevölkerung darauf vorzubereiten. Hier auf der emotionalen Ebene.
Wenige Jahre später begann der Zweite Weltkrieg. 1943 musste auch Bruno an die Front. Er meldete sich freiwillig für die Infanterie, obwohl er gut reiten konnte, denn er befürchtete, sich mit einem Pferd immer zuerst um das Tier kümmern zu müssen. Er überlebte – zwei seiner Brüder nicht, der jüngere war gerade 18. Vier Jahre russische Gefangenschaft folgten. Da war er gerade in seinen Zwanzigern. Danach kam er nach Lübeck, fernab von seiner Heimat in ein völlig anderes Deutschland. Lagerleben, sein erstes Kind wurde geboren, er arbeitete nun auf dem Bau – viele Wohnungen mussten gebaut werden, denn die Städte waren nicht nur zerstört, Schleswig-Holstein hatte nun auch doppelt so viele Menschen, die einen Platz brauchten.
Und aus dem Heldengedenktag war der Volkstrauertag geworden, nun ab 1952 immer am vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent begangen. Gedacht wurde vor denselben Steinen, mit denselben Inschriften, mit denselben Namen toter Soldaten, mit demselben Lied vom „guten Kameraden“ (1825): alles wieder militaristisch. Warum sollte er in diesem Tag etwas anderes sehen, als das, was dieser Tag in seiner Kindheit und Jugend war?


Und nun Brunos Satz, mit dem er seine Abneigung gegen den Volkstrauertag ausdrückte: „Das waren keine Helden“.


Damit war das Thema erledigt. Ich kann mich an Nachmittage, meist in der kalten Jahreszeit, erinnern, meine Schwester und ich waren bei unseren Großeltern, die gegenüber wohnten, und hörten Geschichten von früher. Denn uns haben sie beide viel erzählt. Ein besonderer Schatz waren die Fotoalben, die beide Familien aus ihrer Heimat durch die Vertreibung nach Lübeck gerettet hatten. Wir Kinder betrachteten sie oft gemeinsam mit Oma und Opa und lauschten den Geschichten, die die beiden zu jedem Bild erzählen konnten. So lernten wir Menschen kennen, die wir nie gekannt haben. Wir lernten das Dorfleben der 20er und 30er Jahre kennen. Alltag, Schule, Freizeit, den Jahresrhythmus mit Aussaat, Ernte und Viehzucht, das Familienleben, das so anderes war als unseres und dadurch so spannend. Auch der Krieg wurde nicht ausgespart. Vielleicht waren die beiden auch froh, darüber zu reden, weil sie es nicht gekonnt hatten, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Wir erfuhren von Brunos Zeit in der kurzen Ausbildung vor der Front, auch Geschichten von der Front erzählte er uns. Dora, meine Oma, war besonders vom Krieg betroffen: sie heiratete Brunos älteren Bruder Willi, eine Kriegsheirat 1943. Der Tod von Willi sollte sie niemals loslassen, auch das bekamen wir hautnah zu spüren. Heute frage ich mich manchmal, wie Bruno sich dabei gefühlt hat, wie er damit umging, dass seine Schwägerin, dann seine Ehefrau, Zeit ihres Lebens seinen Bruder vermisste. Dieses Spannungsfeld war mir schon als Kind aufgefallen, ich wagte nur nicht nachzufragen, spürte nur die Traurigkeit.


„Das waren keine Helden.“ Das habe ich schon mit sechs verstanden. Wie denn auch? Sie sind ja nicht freiwillig in den Krieg gezogen, um ihr Land, ihre Familien zu schützen, wie man es auch heute gerne sagt, wenn es um den Wehrdienst geht. Sie hatten buchstäblich keine Wahl.
Und egal, ob es ein Kaiser ist, ein Diktator oder auch eine Regierung wie die unsere, ich fand schon mit acht, als ich diesen Erzählungen lauschte, dass es falsch ist, so zu denken. Denn: „Das waren keine Helden.“ Ein Held ist etwas anderes.
Das hat meine Familie und mich geprägt und daher kennen wir den Volkstrauertag nur aus den Nachrichten. Und ich glaube, das ist gut so. Denn Gedenken an Opfer und Tote durch Gewalt und Krieg ist zu persönlich, als dass ein Staat dafür ein starres Gerüst wie dieses geben kann. Er darf, das will ich hier nicht bestreiten, und für manch einen mag es auch das „richtige“, das „passende“ Gedenken sein. Für manche aber nicht.
Ich finde es generell schwierig, auf so einem persönlichen und individuellen Erlebnis einen Gedenktag für ein Land aufzubauen, denn wozu sind Gedenktage da? Ganz zentral, um ein Wir-Gefühl zu schaffen. Und so, wie der Volkstrauertag begangen wird, welche Hintergründe immer noch präsent sind, wie unterschiedlich die Ausprägung ist, kann kein Wir-Gefühl geschaffen werden. Weder erinnerungskulturell noch politisch sind wir da auf einem Nenner. Und solange das so bleibt, werde ich auch weiterhin den Volkstrauertag nur aus den Nachrichten kennen. Was eigentlich schade ist, denn er bietet unheimlich viel Potential für eine gemeinsame Basis, für einen demokratischen, toleranten, wertschätzenden Umgang miteinander. Ich wünsche mir, dass in Zukunft mehr Menschen mutig sind, denn das sind ja schon einige und erfinden diesen Tag neu. Und vielleicht wird es dann auch mehr Menschen geben, die sich Bruno anschließen und sagen: „Das waren keine Helden“.

Hallo ihr Lieben – oder ein Fazit nach einem knappen halben Jahr

Kaum zu glauben, ein halbes Jahr sind wir erst mit Ars Discendi in Lübeck unterwegs und es fühlt sich schon so an, als würden wir das schon ewig machen.

Dass wir in so kurzer Zeit schon so gut angenommen worden sind und so viele begeisterte Menschen kennengelernt haben, die sich alle für Geschichte, Gesellschaft und unsere Gemeinschaft einsetzen, liegt zum großen Teil an EUCH!

Dafür ein riesiges Dankeschön!

Wir hatten viel Spaß bei allen unseren Formaten, haben Neues gewagt, euch hoffentlich gut unterhalten und dem einen oder anderen auch spannende neue Dinge vermittelt und zum Nachdenken angeregt.

Das jedenfalls habt ihr uns immer wieder in sehr lieben Rückmeldungen geschrieben, über die wir uns in den Tagen, während unsere Touren auch bei uns nachklangen, unheimlich gefreut haben ;-).

So sind auch ganz nebenbei Kontakte entstanden – damit haben wir gar nicht gerechnet – und wir haben gesehen, wie viel Vielfalt es in Lübeck und Umgebung gibt, sich mit kulturellen oder historischen Themen, aber auch politisch brisanten, zu beschäftigen und etwas auf die Beine zu stellen.

Helmold hatte, wie ihr auf dem Foto sehen könnt, jedenfalls sehr viel Freude an seiner Reise in die Zukunft und Bandit (ich hoffe, ich habe seinen Namen richtig geschrieben) hat sicher auch dazu beigetragen, dass er uns wieder besuchen kommt.

Im nächsten Teil werden wir Helmold zu seiner Berufung als Mönch befragen – da kann er uns nämlich einiges zu den unruhigen Zeiten in Alt Lübeck berichten, als sich hier, am Limes Saxoniae, der slawische Kult und das sich ausbreitende Christentum gegenüberstanden.

Wer glaubte was und warum?

Wenn ihr über Touren oder Veranstaltungen immer als erste informiert werden möchtet, mailt uns und wir nehmen euch in den Newsletter der Eingeweihten auf.

Im November steht bei uns das 20. Jahrhundert im Fokus: „Zeit des Erinnerns“ steht an und wir sind auch dabei.

(Link zum Flyer)

In Kücknitz beschäftigen wir uns mit dem Gedenken über Straßennamen, machen uns Gedanken zum Volkstrauertag und diskutieren die Rolle der Kirche im Umgang mit extrem Rechten.

Dort und auch in der Gedenkstätte Lutherkirche sind wir mit unseren Workshops zur Lübecker Landeskirche im Nationalsozialismus und gehen als Biografieforscher mit euch auf Reisen, indem wir uns den evangelischen Pastor, Karl Friedrich Stellbrink, – einer der vier Lübecker Märtyrer – genauer unter die Lupe nehmen. (Diesen Workshop mit dem Titel Wie erinnern wir? bieten wir auch in Kücknitz an).

Informiert euch gerne im Flyer, erzählt euren Freunden, Familien und Bekannten von Zeit des Erinnerns, teilt die Veranstaltungen und vor allem: kommt vorbei! Nicht nur bei uns, Zeit des Erinnerns bietet wahnsinnig viele, wichtige und gute Veranstaltungen! Alle, die daran mitwirken, freuen sich auf euch.

Alle Veranstaltungen von uns findet ihr auch unter unserem Terminen.

Wir freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen mit euch!

Bandit war so gespannt, ob Heinrich (nicht der Löwe) sein Abenteuer wohl überleben würde, dass ich ihm das Pfötchen halten musste

Erinnern an: Den Zweiten Weltkrieg

Teil 1: Dänemark

Folge 3: Das Lager Oksbøl

"Aktion "Dänemark Rückkehrer".

Nein, das sind keine Touristen, die ihren Urlaub an den Stränden unseres Nachbarlandes verbracht haben und nach Sommerfrische und Erholung nun wieder dem tristen Alltag zugeführt werden.

Bei dieser „Aktion“ (so wurden die einzelnen Bevölkerungsverschiebungen genannt, die die Alliierten nach dem Kriegsende beschlossen hatten) ging es um die etwa 250.000 deutschen Flüchtlinge, die sich nach ihrer Evakuierung aus Ostpreußen in Dänemark aufhielten.

Viele davon befanden sich im Lager Oksbøl und wurden ab 1947 nach und nach gen Deutschland rückgeführt. Dabei kamen sie auch durch das Flüchtlingsdurchgangslager hier in unserem Waldhusener Forst.

Ähnlich wie in Deutschland bei den Wohnlagern und auch bei dem Durchgangslager Pöppendorf sah man sich nach den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz mit den Plänen der große Teile Europas umfassenden Bevölkerungsverschiebung einem großen Zeitdruck gegenüber. Daher wurden hier und dort Lager rasch aus dem Boden gestampft, improvisiert, alte Strukturen (ja, auch Zwangsarbeiterlager) rasch umgewidmet. Die Zeit drängte auch in Oksbøl, wo schon im Spätsommer 1945 27.000 Menschen untergebracht waren.

Wie auch in Deutschland gab es eine Phase der Kontrolle und Anwesenheit der Briten, die das ehem. Militärlager nach den Deutschen nun nutzten. Nach deren Abzug wurde zunächst überlegt, ob man die Lager für deutsche Kriegsgefangene nutzen solle. Da diese jedoch rasch nach Deutschland zurückkehrten (auch das Lager Pöppendorf wurde zunächst für die Entlassung der deutschen Armee, die aus Norwegen kam, errichtet, erst dann für Flüchtlinge als Durchgangslager), wurde Oksbøl also Flüchtlingsunterkunft.

Die Situation: es handelte sich um ein auf Soldaten abgestimmtes Militärlager. In Oksbøl etwa gab es einen Militärübungsplatz. Die Unterkünfte waren nicht komfortabel, boten aber Platz für sehr viele Menschen; Versorgungseinheiten wie eine Küche, die 10.-12.000 Menschen versorgen konnte, waren bereits vor Ort. Die Lager waren von Haus aus gesichert und mit Stacheldraht umgeben – wie man es heute ja auch noch von Kasernen und dem Übungsgelände darum kennt.

Auch für den gesellschaftlichen Druck in Hintergrund, etwa der Befürchtung, es könnten nun dauerhaft Schulen als Flüchtlingsunterkunft dienen und die einheimische Bevölkerung für geraume Zeit einschränken, konnten die Lager ein Ventil sein.

Da sich die Flüchtlinge vor allem auf den Süden (Region Kopenhagen und Jütland) konzentrierten, bedeutete dies, dass beinahe 100.000 Menschen in und um Kopenhagen und ebenfalls fast 100.000 in Jütland selbst verteilt sich befanden. Diese Zahl konnte bis Jahresbeginn 1946 mit der Nutzung der Lager deutlich verringert werden.1

Hier ein kurzer Steckbrief von Oksbøl:

Größe: 4 km2

Bewohner: etwa 36.000

ergibt: 9000 pro km2!

Schwarzbrotdepot: 15.000 täglich

Nahrungsmittelbedarf pro Woche:

Milch: 70.000 l

Kartoffeln: 70.000 kg

Gemüse: 53.000 kg2

Die Lebensmittel kamen zunächst aus der Region (Fisch und Gemüse ganz) sowie von den staatlichen Exoprtausschüssen (Kartoffeln, Butter, Käse und Speck). Das sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung in der Region, den der Staat bezahlte.3

Interessanterweise hatte Oksbøl nur Verwaltungspersonal in Höhe von 29 Personen, die für 36.000 Menschen zuständig waren. Das war nur möglich durch ein System der Selbstverwaltung durch die Flüchtlinge: es gab einen eigenen Magistrat, der die Gemeindevertretung darstellte und sozusagen ausführende Gewalt im Lager war, sich mit der Leitung abstimmte etc.4Das Zusammenleben wurde durch viele, strenge Regeln bestimmt:

Es gab eine strikte Trennung zwischen dänischer Bevölkerung und den Deutschen, die physisch durch einen bewachten Zaun in Erscheinung trat.

Fraternisierung, heißt Kontakt zwischen den Menschen inner- und außerhalb des Zaunes,war streng verboten und wurde hart bestraft: 2-3 Wochen Haft oder 100 Kronen.5
Kinder unter 10 mussten um 20 Uhr, alle anderen um 22 Uhr Ruhe halten.

Die Nachtruhe ging bis sechs Uhr morgens.

Als weitere Verwaltungsbereiche gab es unter anderem: Registratur, Gärtnerei, Werkstätten, ein Kirchenbüro, das auch Geburten und Todesfälle registrierte, Post, Krankenhaus (das Gebäude steht übrigens noch und beherbergt heute das Flugt Museum!), ein Theater, Schule, Kino…6
Was heute auch noch zu sehen ist, ist der Friedhof des Lagers, der als Teil der Kriegsgräberfürsorge von dieser Organisation betreut wird.

Oksbøl ist also heutzutage Museum für das Lager, Gedenkstätte und beherbergt eine große moderne Ausstellung über das Thema Flucht: „Flüchtlinge zu allen Zeiten“ genannt.

1 Jensen, S. 57f.

2 Jensen, S. 61, 66.

3Jensen, S. 67f.

4Jensen, S. 68.

5Jensen, S. 69f.

6Jensen, S. 69-73.

Wir haben uns das Museum im September 2024 angeschaut und waren beeindruckt. Die zweigeteilte Ausstellung: Oksbøl als Flüchtlingslager damals mit vielen historischen Exponaten und einem riesigen, von den Flüchtlingen selbst gebauten Modell des Lagers! und im anderen Teil des Gebäudes eine bemerkenswert vielseitige, medial eindrückliche Ausstellung, die uns das Thema Flucht im 20. Jahrhundert näher bringt. Dort setzt man vor allem auf Audioguides, Tafeln zum Durchlesen findet man selten bis gar nicht. Installationen zeigen die Heimat der Flüchtlinge repräsentiert durch ein Zimmer ihres Hauses, gepaart mit ihrer Geschichte, die man beim Betrachten hören kann.

Zeitzeugen spielen überhaupt eine große Rolle. Was auch nachvollziehbar ist, denn wer könnte uns heute besser vermitteln, was es bedeutet, fliehen zu müssen, in ständiger Lebensgefahr zu sein und dann irgendwo anzukommen und die Hoffnung zu haben, nach all den Strapazen, Ruhe, Frieden und vielleicht ein neues glückliches Leben zu finden, ähnlich dem, das man verlassen musste.

Wir lernen Menschen aus der ganzen Welt kennen, Konflikte werden uns wieder näher gebracht, die wir vielleicht schon verdrängt oder gar vergessen haben, wie den Kosovokonflikt, der erste Krieg, den ich Mitte der 90er als Grundschülerin bewusst in den Nachrichten miterlebt habe und der für mich heute noch nachwirkt.

Draußen gibt es neben dem Museumsgebäude, das einmal das Krankenhaus war, außer Wald und Heidelandschaft nicht allzu viel zu sehen, eine alte Baracke soll demnächst zur Ausstellung über das Lager umgebaut werden und die bestehende Dauerausstellung ergänzen. Das Gelände wird jedoch dennoch eindrücklich historisch erfahrbar gemacht: ein Audioguide meldet sich immer wieder, während man auf den vielen Pfaden durch Sandheide und Wald wandelt. Oksbøl im Jahr 1946 wird hier durch eine deutsche junge Frau lebendig gemacht, die uns durch das Lager begleitet und sich mit verschiedenen Menschen, die sie auf dem Weg trifft, unterhält. So lernen wir das Theater, die Küche, die Schule, der Feuerwachturm (den man übrigens besteigen kann) und die Werkstatt kennen.

Das Museum ist ein Ort für einen ganzen Tag und obendrein gibt es auch noch ein gemütliches oder wie die Dänen sagen hyggeliges Restaurant mit Speisen zur Stärkung.

Was uns an der Ausstellung zum Lager damals noch besonders gut gefallen hat, ist der Nachbau des Kinos in einem Raum, in dem man auf Kinosesseln sitzend ringsum mit Bildschirmen bestückt, Aufnahmen aus der Zeit des Lagers betrachten kann und quasi visuell in die Zeit eintaucht.

Wer also seinen Urlaub in der Nähe von Varde nördlich von Esbjerg, Blåvand ist vielleicht auch ein Begriff, verbringt, der sollte dem Flugt Museum wirklich einen Besuch abstatten. Es lohnt sich! Auch, weil es mit seiner Art zu vermitteln mal ein wenig von dem abweicht, was wir auch in Deutschland sonst gewohnt sind.

Erinnern an: Den Zweiten Weltkrieg

Teil 1: Dänemark

Folge 2: Flüchtlinge in Dänemark und der Umgang mit den Quellen

Ich wusste nichts von der Existenz von Flüchtlingslagern auf dänischem Staatsgebiet, bis ich im Zuge der Ausstellung zu unserem Kücknitzer Durchgangslager auf das Thema gestoßen bin. Bedenkt man die ungeheuer großen Zahlen an Menschen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz Europa stattfanden, ist das jedoch recht einleuchtend. Irgendwo sind sie ja hingekommen. Und dass es dort nicht unbedingt Platz, Wohnraum, Versorgung für tausende von Menschen in so kurzer Zeit gab, ist auch nachvollziehbar. Diese Situation ist aber in keinster Weise vergleichbar mit unserer gern als „Flüchtlingskrise“ betitelten Zeit ab 2015!

Forscht man zum Lager Pöppendorf, gehören die sog. „Dänemarkrückkehrer“ zu den Menschen, die mit als letzte Gruppe durch das Durchgangslager geschleust wurden. 1948, mehr als drei Jahre nach Kriegsende! Das lag schlichtweg daran, dass die Rückführung anderer Personen dringender war, etwa die der Vertriebenen aus den Ostgebieten, die sich in Vertreibungslagern aufhielten und unter meist menschenunwürdigsten Bedingungen untergebracht waren, weil etwa Staatsgrenzen sich änderten (Polen-Deutschland), kurzum: die Priorität also woanders lag.

So harrten etliche tausend bereits 1944 aus Ostpreußen Evakuierte jahrelang in Dänemark aus, ein Land, das bereits früh vom Deutschen Reich besetzt wurde und nun – zusätzlich zur Besatzung – auch noch eine riesige Zahl derer aufnehmen sollte, die Staatsbürger dieser Besatzungsmacht waren.

Wie das funktionierte, kann man am Lager Oksbøl sehen:

Ein ehemaliges Militärlager, 35.000 deutsche Flüchtlinge: daraus wurde die fünftgrößte Stadt Dänemarks! (Dazu mehr in der Folge 3.)

Die Besatzungszeit war zu Ende und die dänischen Behörden taten zunächst wenig für die deutschen Flüchtlinge.

„Mit unserer Ernährung wird es immer trauriger. In dieser Woche bekamen wir drei Tage Kohlrüben und vier Tage Mohrrüben-Wassersuppe. Brot – sogar etwas Weißbrot (fünf Scheiben Schwarz- und zwei Scheiben Weißbrot pro Tag). 20 Gramm Butter, 25 Gramm Wurst und 25 Gramm Käse als Zubrot. (…) Statt der sonst üblichen Wassersuppe gab es heute – statt Festbraten – eine sogenannte Milchgrütze, ein blaues Etwas mit Mäusedreck!“ Elisabeth von dem Knesebeck

Und ein Journalist schrieb:

„Unter den gegebenen Umständen gibt es für die Flüchtlinge keinen Grund, sich zu beklagen. Ihr Problem ist in erster Linie: Da sie sich jetzt nicht mehr unter dem Schutz der Wehrmacht vollstopfen können, möchten sie am liebsten nach Hause. Wir wünschen uns auch sie rasch loswerden zu können.“1

Solche Zeitzeugenaussagen machen etwas mit uns heute: Ich denke zuerst an den Gegenwartsbezug: Hey, das ist irgendwie nicht weit weg von der Polemik, die man in der Bildzeitung lesen kann… und wenn ich mir den Tagebucheintag von Elisabeth anschaue, plus der Info, die ich aus ihrem adelig anmutenden Name ziehe, habe ich auch gewisse Gedanken dazu im Kopf…

Und was machen wir Historiker mit solchen Quellen?

1. Niemals kann das allein die Realität abbilden oder uns zu allgemeinen Aussagen wie „Die Deutschen wurden von den dänischen Behörden nach der Besatzungszeit schlecht behandelt“ leiten. Einzelfälle und Eindrücke oder Bewertungen einzelner Personen haben KEINEN Allgemeinheitsanspruch!

2. Es ist wie ein riesiges Puzzle, dem viele Teile fehlen: wie viele, wissen wir nicht, werden wir auch nie herausfinden.

3. Wir können uns der Vergangenheit stets nur annähern und dabei versuchen, eine objektive Sicht einzunehmen. Das heißt: Emotionen zurückfahren, Aufregung runter, Dinge hinterfragen!

4. Wir sind nicht dazu da, ein vollständiges Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Von diesem Anspruch muss man sich verabschieden. Das geht ja nicht einmal in unserer Gegenwart, wenn man sich das einmal überlegt, also warum sollte das für Ereignisse gelten, die Jahrzehnte oder Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückliegen?

Eine ausgiebige Quellenrecherche und Analyse kann ergeben: wir haben – in diesem Fall – unterschiedliche Meinungen über die Situation der Flüchtlinge in Dänemark. Je nach Position: Däne, der unter der Besatzung lebte, ein Deutscher, der evakuiert wurde und in Dänemark das Ende der Besatzung im Lager erlebt. Natürlich haben die beiden unterschiedliche Erfahrungen gemacht, sehen ihre Situation anders.

Was wir machen können, ist: Darstellen, welche Meinungen es gibt und sie einordnen. Vielleicht haben wir andere Quellen, die ein objektives Bild vervollständigen, etwa bei der Versorgung. Es gibt ja Schlüssel, die festlegen, wie viel Kalorien jedem Flüchtling zustand. Ob das nun überall immer eingehalten wurde? Das bleibt wieder im Dunkeln.

 

Buchtipp, um die Geschichte aus nicht-deutscher Perspektive zu beleuchten

Für Dänemark stellt John V. Jensen in seinem Buch über die deutschen Flüchtlinge in Dänemark fest, dass das Bild wie üblich sich nicht schwarz und weiß darstellt. Verständlicherweise waren die Dänen in der Mehrzahl, gerade als mit der Befreiung die eigenen Behörden und auch die Widerstandsgruppen die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge übernahmen, den Deutschen nicht gerade zuvorkommend und gnädig gestimmt. Sodass eine nun schlechtere Essensversorgung und ein negatives mitleidloses Bild in der Presse nun beobachtet werden konnte. Es gibt aber auch Beispiele in Zeitzeugenaussagen etwa, dass Deutsch auch freundlich behandelt wurden. Wie üblich darf man hier also nicht ein Gesamtbild malen. Dass Aktionen gegen die Deutschen in der Überzahl waren, belegen Razzien durch Widerstandkämpfer, die sich auf eine Ausbeute von insgesamt 150.000 Kronen plus einige deutsche Sparbücher beliefen. Auch ein Zeichen für die negative Stimmung ist ein Verteidigungsbrief von 60 dänischen Pastoren, der in der Tageszeitung veröffentlicht wurde und an Menschlichkeit appellierte und einen „neuen Nazismus“ anprangerte.2

 

Da die Alliierten eine rasche Rückführung der Flüchtlinge ausschlossen (es gab ja die organisierten Vertreibungen, die ganz Europa umfassten und auch die Rückführung aus Dänemark beeinflussten), war man in Dänemark gezwungen, eine Flüchtlingsverwaltung aufzubauen, was im September 1945 geschah. Deren Leiter äußerte sich weitsichtig:

„(…) diese Menschen waren gegen unseren Willen hierher gekommen, weshalb niemand von uns erwarten konnte, freundliche Gefühle ihnen gegenüber zu hegen. Aber wenn man den Anspruch erhebt, sich als demokratischer und somit humaner Staat zu bezeichne, war klar, dass wir weniger aus Rücksicht auf die Flüchtlinge als auf uns selbst und dem Urteil nachfolgender Generationen diese uns aufgezwungene Aufgabe übernehmen müssen.“3

Die Verwaltung arbeitete fortan im Spannungsfeld zwischen einer Versorgung, die auf der einen Seite nicht als inhuman beurteilt werden sollte, auf der anderen auch nicht gegenüber der eigenen Bevölkerung den Eindruck einer Bevorzugung der Deutschen erwecken sollte.

Die Idee, die dann auch umgesetzt wurde, war: die Flüchtlinge aus der Öffentlichkeit zu entfernen, sie unsichtbar zu machen und so Kontakte zu unterbinden, die zu Hass und Schlimmerem führen konnten. Das ging jedoch nicht lange gut, denn aus der Presse regte sich Kritik, die sogar soweit ging, dass ein Lager spekulativ mit dem KZ Neuengamme verglichen wurde.

Heute fällen Historiker das Urteil, dass es Deutschen in dänischen Lagern – trotz Stacheldraht und Unfreiheit – jedenfalls was die Versorgung und Unterbringung anbelangte, besser erging als den deutschen Ostflüchtlingen in Deutschland in dieser Zeit. Vor einer allzu paradiesischen Sichtweise sollte man sich aber immer zurückhalten. Auch hier ist wieder Distanz und Objektivität gefragt.4 

Aus dieser Vielseitigkeit der Quellen und Meinungen kann man lernen, dass Geschichte immer mehr als zwei Seiten hat und das ist auch eine gute Lehre für jedes Thema in Politik oder Gesellschaft, mit dem wir uns heute beschäftigen.

Und hier noch ein Spoiler: in Folge 3 besuchen wir das Lager Oksbøl, damals und heute als Museum.

Literatur: Jensen, John V.: Deutsche auf der Flucht. Aarhus 2022.

1 Jensen, John V.: Deutsche auf der Flucht. Aarhus 2022, S. 46f.

2 Jensen, S. 48f.

3 Jensen, S. 50f.

4 Jensen, S. 54f.

Erinnern an: Den Zweiten Weltkrieg

Teil 1: Dänemark

Folge 1: Der Zweite Weltkrieg in Dänemark – ein kurzer Überblick

Über Dänemark in der Zeit des Zweiten Weltkrieges lernt man in Deutschland wenig – jedenfalls in den Schulen. Auch wir in Schleswig-Holstein und das, obwohl wir Nachbarn sind!

In dieser kleinen Reihe berichten wir über den Umgang mit dem Thema in unserem Nachbarland und stellen Orte vor, die wir sonst nur als Ferienlocations kennen. Dazu dienen uns als Beispiele zwei Museen, die gar nicht weit von der schleswig-holsteinischen Grenze entfernt an der Nordsee liegen. Vorab schon einmal: es lohnt sich, diese Museen in den nächsten Dänemarkurlaub zu integrieren.

Nordsee bei Blåvand

Dänemark unter deutscher Besatzung

Am 9. April 1940 erfolgte die Invasion der Wehrmacht nach Dänemark – eine Besatzungszeit begann, die sich in zwei Phasen einteilen lässt: 1940-1943 und 1943 (August) bis zur Befreiung am 5. Mai 1945.

In den Jahren zwischen 1940 und 43 blieben während der Besetzung die Institutionen im Land intakt. Die deutsche Seite erklärte, man werde die Neutralität des Königshauses schützen, denn man erkenne die Dänen als Germanen und damit als gleichwertig an. Als Vertreter der Besatzungsmacht, wurde ein sogenannter „Reichsbevollmächtigter“ eingesetzt, der mit dem weiterhin im Amt bleibenden dänischen Staatsminister zusammenarbeitete.

Dänemark hatte in den Jahren zuvor auf Deeskalation und möglichst unauffälliges außenpolitisches Verhalten gegenüber dem deutschen Reich gesetzt und schätzte seine Erfolgsaussichten, gegen die Wehrmacht bestehen zu können, zu gering ein.

Die ersten Besatzungsjahre waren in Dänemark geprägt von deutscher Zensur und dem Versuch, die dänische Bevölkerung zur eigenen Ideologie hinüber zu ziehen: die Fassade einer Eigenständigkeit bröckelte mehr und mehr.

1943 eskalierte der schon länger schwelende Konflikt im Land und die dänische Regierung trat am 28. August zurück. Werner Best, seit 1942 Reichsbevollmächtigter im Land, setzte zwar weiter auf Kooperation zwischen den beiden Ländern, sah sich aber wachsendem Widerstand auf dänischer Seite gegenüber. Er begann im Herbst 1943 mit der organisierten Judenverfolgung. Der Termin für die Deportation geriet an die Öffentlichkeit, Schweden bot über seinen Rundfunk seine Hilfe bei der Aufnahme dänischer Juden an, der dänische Widerstand organisierte in Zusammenarbeit mit der dänischen Verwaltung eine Rettungsaktion und war erfolgreich: die Mehrzahl der dänischen Juden konnte über die Ostsee nach Schweden entkommen. Best gab sich danach als Mitverantwortlicher aus, indem er behauptete, er habe den Termin absichtlich ans Licht kommen lassen. Seine Rolle bezüglich dieser Episode ist heute umstritten.

Deutsche Flüchtlinge in einer dänischen Unterkunft 1945, Jensen S.11

War Dänemark bisher vom Kriegsgeschehen verschont geblieben, änderte sich das Anfang 1945:

Am 12. Februar gelangten die ersten Flüchtlinge (Evakuierte aus Ostpreußen), Frauen und Kinder mit einem Sonderzug nach Jütland.

Best hatte dem Leiter des dänischen Außenministeriums, Nils Svenningsen, der die diplomatische Vermittlung nach dem Rücktritt der Regierung übernommen hatte, nur verkündet, dass Dänemark verletzte Soldaten aufnehmen sollte.

Dass ihm nun mitgeteilt wurde, dass das Land auch noch Zivilisten unbekannter Zahl unterbringen sollte, bereitete ihm Sorgen. Er forderte im Gegenzug für die Aufnahme die Freilassung von 1.458 zuvor inhaftierten und ins Deutsche Reich deportierten dänischen Polizisten. In der Folge gelang es Dänen, gemeinsam mit dem schwedischen Roten Kreuz, 30.000 KZ-Häftlinge nach Schweden in Sicherheit zu bringen.

 

Der Beschluss der deutschen Führung sah vor, 150.000 Deutsche nach Dänemark zu evakuieren. Sie sollten in Lagern auf dem dänischen Festland (die Inseln böten ein Sicherheitsrisiko bei Kämpfen oder erschwerten Evakuierungen) unter strikter Trennung von der dänischen Bevölkerung untergebracht werden.

Die Finanzierung wurde möglich durch ein Clearingkonto bei der Nationalbank, auf dem Importe deutscher Industriegüter und Agrarprodukte aus Dänemark in das Deutsche Reich verrechnet wurden. Eine zweite Säule stellte das Wehrmachtskonto dar, auf das Firmen, die für die Besatzungsmacht tätig waren, einzahlen mussten.

Konflikte entstanden nun auch innerhalb der deutschen Führung: es wurde diskutiert, ob und wie man ein Heer im Land kampffähig halten könne bei gleichzeitiger Aufnahme vieler Tausend Menschen.

In diese Situation hinein kamen Deutsche per Schiff und Eisenbahn aus den Gebieten der Ostfront in Dänemark an. Sie wurden in Unterkünfte in den größeren Städten Jütlands gebracht.

Ende April 1945 befanden sich nur im Großraum Kopenhagens 50.000 bis 60.000 Flüchtlinge, 26.000 davon auf 58 Schulen verteilt. Nach Kriegsende wurde auf alliierter Seite sogar die Aufnahme von 250.000 deutschen Kriegsgefangenen in Betracht gezogen. In diese Überlegungen fiel das deutsche Militärlager Oksbøl. Schon bei der Evakuierung, die seit Februar lief, wurden hier Menschen untergebracht. Nun wuchs das Lager schnell an und war ein Jahr später mit 35.000 Bewohnern die fünftgrößte Stadt Dänemarks.

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Literatur: Jensen, John V.: Deutsche auf der Flucht. Aarhus 2022.

Dänemarkt unter deutscher Besatzung: https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A4nemark_unter_deutscher_Besatzung

Gibt es ein Recht darauf, sich nicht erinnern zu müssen?

Eine Studie des MEMO Deutschland (Multidimensionaler Erinnerungsmonitor) zeigt aktuell, dass erstmals mehr Befragte es bevorzugen würden, dass unter die Zeit des Nationalsozialismus ein Schlussstrich gezogen werde.

Bildquelle: MEMO-Studie

Was sagt das aus über uns? Über uns als Gesellschaft? Über die Generationen, die immer mehr zeitlich entfernt von den Ereignissen aufwachsen, obwohl 80 Jahre erst ein Menschenleben sind?

Knapp 40 zu 40 % stehen sich gegenüber. Die Mitte verhältnismäßig klein. Spiegelt das auch ein wenig die viel diskutierte Spaltung in unserem Land wieder?

Schon bevor ich die Studie sah, machte ich mir Gedanken: Warum beschäftige ich mich soviel mit dieser Zeit, mit dem Krieg, seinen Auswirkungen auf, ja, alle. Juden, politisch, ethnisch, religiös Verfolgte, Flüchtlinge, Heimatlose, Zwangsarbeiter, Vertriebene. Meine Familie, die da ganz zentral mit drin hängt. Seit ich denken kann, ist mir bewusst, dass meine Großeltern Schreckliches erlebt haben. Sie haben uns Kindern davon erzählt. Mehr als ihren Kindern. Die Schwarzweißfotos aus ihrem Dorf in Pommern, das Landleben, das mein sechsjähriges Ich spannend, abenteuerlich, so ganz anders fand. Dann in fast jeder Erzählung verbunden damit: der Krieg. Wie mein Opa mit 20 eingezogen wurde, meine Oma ihren Mann verlor, den sie im Fronturlaub geheiratet hatte. Mit Anfang 20. Das waren zentrale Aspekte, wenn die beiden „von früher“ erzählten. Schönes neben Traurigem. Aber das gehört dazu. Ich habe nie gedacht, dass man das eine, das Negative, ausklammern sollte. Hat es mir geschadet? Ich glaube nicht. Damals begann mein Interesse für Geschichte. Ich las alle Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus, die ich in der Jugendabteilung unserer kleinen Stadtbibliothek fand. Schon in der Grundschule fing ich damit an.

Und jetzt? Tue ich das immer noch. Nur oft auf der anderen Seite: Wenn man Geschichte vermittelt, kommt man, gerade auch bei der Regionalgeschichte, um diese Themen nicht herum. Offiziell angefangen habe ich mit der Geschichte über ein Durchgangslager in unserem heimischen Wald nach 1945; darin befand sich auch eine Episode zu dem Umgang mit jüdischen Auswanderern. Da ist sie wieder: Die Zeit des Nationalsozialismus.

Gerade jetzt, wenn es Jubiläen, Gedenktage gibt. Soviel ist noch unerforscht, soviel kann man – was uns mit unserer Arbeit am meisten interessiert – aufarbeiten, öffentlich machen, diskutieren, zeigen. Und das sollte man dringend, wenn man sich die Studie und unsere Stimmung in der Gesellschaft anschaut.

Manchmal denke ich: Warum muss ich das tun? Ich brauche doch nicht davon überzeugt werden oder mich selbst zu überzeugen, dass Krieg schrecklich ist, dass er mehr Leid verursacht als Nutzen (jedenfalls für die Meisten) bringt. Ich möchte doch viel lieber Ovid übersetzen, mich mit Literatur beschäftigen, mit hellen, freundlichen Themen.

Zuviel Beschäftigung mit solchen Themen zieht einen herunter. Es gab und gibt Tage, etwa um Weihnachten des vorletzten Jahres herum, da habe ich alles weggeschoben: die Bücher, die im Wohnzimmer lagen: über Völkerschauen, ethnisch Verfolgte in einem Lager bei uns in der Nähe. All das gleichzeitig. Ich konnte nicht mehr. Dann aber kommt ein neuer Impuls, eine Idee. Oft angestoßen durch Menschen, die ich treffe. Fragen, Ideen, die bei einer Führung geäußert werden. Und dann wieder eine neue Idee: Dies oder jenes Thema kennt kaum jemand, hier kann man verknüpfen. Das steht für jenes Phänomen. So kann die Gegenwart, die Gesellschaft erklärt, eingeordnet werden. Dadurch lassen sich Menschen politisch bilden.

So arbeiten wir und das macht Spaß! Wir haben immer mehr vor, als wir umsetzen, leisten können – es hört also nie auf.

Und dann wieder Zweifel: Erreichen wir überhaupt etwas? Erreichen wir genug?

Ähnlich wie in der Studie kann man unsere Gesellschaft in zwei Lager teilen: die einen, die erinnern und sich erinnern wollen, und die anderen, die das Negative, wie sie es vielleicht auch mit allem Negativen in ihrem Leben tun, verdrängen wollen. Ist das legitim? Dürfen oder müssen wir sogar Menschen zwingen, sich mit Negativem, das ihnen nicht gut tut, zu beschäftigen?

Die Frage ist eher: Was ist der Preis, wenn wir damit aufhören?

Die Generation der Zeitzeugen verschwindet. Bald gibt es nichts mehr von der Zeit des Nationalsozialismus aus erster Hand. Es gibt zwar Dokumentationen, vielleicht so viele wie zu keinem Thema sonst, aber das ist viel anonymer als die Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen aus der eigenen Familie. Jemand, der von sich erzählt, den wir kennen. Dieser Weg, der vielleicht ergiebiger, einfacher und nachhaltiger ist, ist bald versperrt, geschlossen, für immer. Was bleibt uns, um genauso nachhaltig und tiefgründig daran zu erinnern?

Vielleicht Regelmäßigkeit. Regionalität. Ganzheitliche Bildung.

Das wäre ein Ansatz. Vielleicht ist er nicht der Beste. Aber wir sollten es wenigstens versuchen und nicht nur ständig daran appellieren, dass etwas getan werden muss – ohne Taten folgen zu lassen. Ich weiß, das ist einfacher, aber statt mit großen pathetischen Worten, die in der Tagesschau fast das ganze Land erreichen, sollte man aufs Kleine schauen. Flächendeckend. Nicht nur da, wo es brennt. Angebote für alle schaffen.

Wenn ich das möchte, ist meine Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Deutschland nach dem Schulabschluss vorbei. Also oft schon mit 16! Danach bin ich auf meinen eigenen Kopf, auf das angewiesen, was ich gelernt habe oder auch nicht. Bin ein oft allzu leichtes Opfer für Verschwörungstheorien und mache mich angreifbar für „alternative Meinungen“. Dann ist es oft schwer, aus diesem Gedankenkonstrukt wieder herauszukommen. Wenn ich das denn überhaupt möchte. Vielleicht ist es ja auch schön bequem.

Wir sind jedenfalls froh über jeden, der kommt, zuhört, Fragen stellt!, mitgestaltet, Impulse gibt und dranbleibt.

Also kommen wir wieder zurück auf die Frage vom Anfang: Gibt es ein Recht darauf, sich nicht erinnern zu müssen?

Der Versuch einer Antwort ist wie so oft schwierig. Man könnte nun das Recht auf freie Meinung anführen, auf die Vorstellung hinweisen, dass ein Staat seinen Bürgern Themen aufzwingt. Das kennt man aus autoritären Regimen. Nordkorea etwa, wo man gezwungen wird, sich mit der Familie Kim zu beschäftigen. Aber ist das das Gleiche? Zu welchem Zweck, mit welcher Absicht geschieht das Eine, geschieht das Andere?

Dient die durch Fachanforderungen, Förderprogramme oder Gedenktage staatlich verordnete oder geförderte Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus dazu, das gegenwärtige System zu verherrlichen? Oder dient sie dazu, über das vergangene System aufzuklären?

Wer sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, erkennt sehr schnell, was für ein verabscheuungswürdiges System er war (und ist). Das erkennt man, wenn man die Fakten kennt, wenn man weiß, wie die Progpaganda funktionierte, welches Menschenbild vertreten wurde, welcher ideologische Hintergrund gelegt worden war, welche Taten in seinem Namen und von seinen Vertretern begangen worden sind.

Erst wer die Fakten kennt, kann sich eine versierte Meinung bilden.

Der Nationalsozialismus ist und bleibt ein prägendes Kapitel deutscher Geschichte mit gewaltigen Auswirkungen auf die ganze Welt, auf Gesellschaften, auf Generationen – immer noch und das bleibt so. Und in Sätzen wie „Aber es war ja nicht alles schlecht!“ lebt er fort.

Das lässt sich nicht wegdiskutieren oder wegschieben. Auch wenn jeder von uns das manchmal gerne möchte. Und man sollte es auch nicht als Strafe für die folgenden Generationen betrachten. Denn das schwingt ja immer mit, wenn Menschen wie in der Studie einen „Schlussstrich“ fordern. „Wir haben doch genug gesühnt!“ „Was haben wir heute mit den Taten der Menschen von vor 100 Jahren zu tun?“

Meine Antwort: Einiges. Angefangen mit der nicht oder wenig stattgefundenen Entnazifizierung über Unternehmen und Politikerdynastien, die seit damals ununterbrochen weitermachen, bis zu Strukturen in Denkweisen, die in vielen Regionen – in Ost und West! – bis heute weiterleben. Das lässt sich nicht wegschieben und das prägt unsere Gesellschaft und unsere Politik bis heute. Und vielleicht ist das auch ein Aspekt, der die Spaltung nicht nur in der Studie, sondern auch in der gesamten Gesellschaft weiter vorantreibt.

Aus schrecklichen, traurigen und deprimierenden Themen etwas Neues, Positives, Sinnvolles, Wertvolles, ein besseres Miteinander zu erschaffen – dafür brauchen wir die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Und das ist es auch, was die wenigen Zeitzeugen meinen, wenn sie uns aufrufen, nicht zu vergessen!

– Lea Märtens

Quelle: https://www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/MEMO_Studie/evz_gedenkanstoss_memo_2025.pdf